Sonntag, 12. Februar 2017

Der Lawinenhund

In den späten Abendstunden ist kein Verkehr mehr in unserer Wohnstraße, deshalb kann ich Camillo ohne Leine laufen lassen.
Meistens gehen wir eine kleine Runde, wobei wir beide unseren Gedanken nachgehen. Ich mal mehr mal weniger nachdenklich, Camillo immer intensiv schnüffelnd. Da wird alles am Wegesrand in die Nase genommen. So kommen wir langsam, aber stetig mit so mancher Unterbrechung vorwärts.

Eines Abends auf dem Rückweg hörten wir ein Geräusch. Aufgeregt kam er zu mir gelaufen. Als wir um die Ecke bogen sahen wir die Ursache. Vom Garagendach war eine kleine Dachlawine abgegangen und türmte sich jetzt vor der Einfahrt.

Sonderlich schlimm war das nicht, da ich sowieso kein Auto drinnen stehen hatte. Wir gingen zügig daran vorbei, wobei Camillo, der dem ganzen Schneehaufen noch nicht traute, einen größeren Bogen einschlug.

Nicht lange. Wir waren gerade wenige Meter weitergegangen, als Camillo direkt zum Schneehaufen zurücklief und schnüffelte. Er kam nicht, als ich ihn rief. 

Sein Interesse an dem Schneehaufen war geweckt. Nach einem zweiten Rufen wieder nichts. Schließlich musste ich ihn anleinen und wegziehen. Wir hatten nur noch wenige Meter bis zur Haustüre.

Dann kam unser beider Ritual, wie nach jedem Gassigehen. Ich zog Schuhe und Jacke aus und schlüpfte in meine Hausschuhe, Camillo wurde von seinem Leinengeschirr befreit und bekam ein Leckerli.

Nur, heute Abend nahm er das Leckerli nicht. Statt dessen stürmte er ins Wohnzimmer und setzte sich auf den äussersten Teppichrand gleich neben seiner Hundedecke.
Das ist der Platz, auf dem er sitzt, wenn ihm was nicht passt oder er auf jemanden wartet. Provozierend schaute er mich an, dann lief er wieder zurück zur Wohnungstür und setzte sich davor.

So kannte ich Camillo nicht. »Muss der nochmal?«, ging es mir durch den Kopf.
Ich beorderte ihn zurück ins Wohnzimmer. Wieder setzte er sich an den äußersten Teppichrand.
Seine dunklen Hundeaugen sagten mir: »Kapierst Du das nicht? Ich will raus!«
Dann schoss er zurück auf den Flur und setzte sich an die Wohnungstür.

Jacke und Schuhe waren schnell angezogen. Ohne Leine ging es nochmal hinaus in die Nacht. Camillo stürmte vorneweg und schnurstracks zum Schneehaufen vor dem Garagentor.
Ganz aufgeregt schnüffelte er immer an der gleichen Stelle und fing schließlich mit den Vorderpfoten im Schnee zu Graben an.

Mittlerweile stand ich neben ihm.

Camillos kurzes Bellen verriet allerhöchste Aufgeregtheit.
Als ich ihn zurücknehmen wollte, sah ich einen Igel, unter einer Eisscholle gefangen, auf dem Rücken liegen. Mit meinem Spazierstock hob ich das Eis hoch und sofort sprang der stachelige Geselle auf die Füße und rollte sich ein.

Camillo war immer noch sehr aufgeregt, bellte aber nicht mehr. Nach einem letzten Schnüffler ging er mit mir ein paar Meter zurück. Es dauerte nicht lange, dann kam wieder Leben in den Igel. Behände trippelte er hinüber zum Maschendrahtzaun und verschwand unter einem Stapel Holz.

Ich lief neben einem zufriedenen Camillo zurück in die Wohnung. Stolz wie Oskar nahm er sein Leckerli entgegen und trollte sich sofort auf seine Hundedecke.

Ob Hunde auch Träumen können?
Wenn ja, dann weiß ich, was er in dieser ereignisreichen Nacht träumte.

Noch Tage später, wenn ich mit Camillo unsere Runde drehte, bemerkte ich, wie stolz er am Schneehaufen vorbeiging.
Seine dunklen Augen schauten mich strahlend an.
Ich lobte ihn und ernannte ihn zum ersten Dachlawinenhund Niederbayerns.

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